Murat und Drakula

Illustration: Martina Wildner

»Am Schulkiosk kostet der Kakao einen Euro. Na, ich geb dir zwei, ist ja dein erster Tag heute.« Mutter gab Murat einen Kuss auf die Stirn und einen Klaps auf die Schulter. Manchmal behandelte sie ihn wie einen Fünfjährigen, fand er. Dabei musste er heute Morgen sogar allein in die Schule gehen, weil sie ausgerechnet an seinem ersten Tag in der neuen Schule arbeiten musste. »Klar, schaff ich das«, hatte er gesagt, »ich weiß ja, wo das Lehrerzimmer ist, und überhaupt, ich bin doch kein Baby mehr!«

Als er jetzt vor den 21 unbekannten Gesichtern stand, fühlte er sein Herz richtig hämmern. Vielleicht klopfte es so stark, weil er den ganzen Weg gelaufen war. Denn er wollte auf keinen Fall am ersten Tag zu spät kommen. Außerdem musste er doch das komische Gefühl loswerden, das ihm im Magen brannte, seit Mutter die Haustür hinter ihm geschlossen hatte.

»Das ist Murat. Du kommst aus der Türkei, nicht wahr?«, fragte jetzt Herr Schmidt, der Deutschlehrer, der Murat in die Klasse gebracht hatte.

»Ich komme aus Pinneberg«, protestierte Murat. Die Mädchen kicherten und einige Jungen lachten. Irgendwo hörte Murat aber auch eine andere Stimme, die rief: »Hoş geldin, 'lan, Dicker!« Ein kleiner, aber kräftig aussehender Junge mit einem wirren rabenschwarzen Haarschopf in der zweiten Reihe lachte auch nicht, er funkelte den neuen Mitschüler aus dunklen Augen nur neugierig an. Dieser Junge war Murat vorhin schon auf dem Korridor aufgefallen, da hatte er sich geprügelt und war erst kurz vor dem Lehrer in den Klassenraum geflutscht. Und nun schob der Lehrer Murat ausgerechnet zu diesem Jungen hinüber!

»Gut, also Murat aus Pinneberg, setz dich da zu Drakula, damit du nicht von Anfang an nur Türkisch quatscht!«

Murat glaubte, sich verhört zu haben. Hatte der Lehrer »Drakula« gesagt? So konnte der Junge doch nicht heißen! Murat setzte sich zu dem Jungen, der bereitwillig seine Sachen beiseite schob. Die ganze Klasse feixte: »Frisches Blut für Drakula! Ein neues Opfer für Drakula!«

Vor Aufregung kriegte Murat die ersten Stunden gar nicht richtig mit und war nur froh, dass er nicht aufgerufen wurde. In der großen Pause nahm Drakula ihn mit auf den Hof. »Komm, ich kauf Cola für uns beide!«, schlug er vor. Murat steckte noch seine Pausendose ein: Tomate und Gurke, ein Pfirsich, Müsliriegel und Käsebrot. Drakula riss die Augen weit auf und freute sich, als Murat ihm den halben Pfirsich und das ganze Käsebrot überließ. Murat aß sowieso viel lieber Wurstbrot.

Sport war schrecklich. Murat hasste Turnen. Frau Schmidt sah mit ihrem Bürstenschnitt und dem durchtrainierten Körper eher aus wie ein Herr Schmidt, aber trotzdem bevorzugte sie die Mädchen, darin waren sich die Jungen einig. Die Jungsriege grätschte über den Kasten. Drakula hüpfte behende wie ein Eichhörnchen hinüber und stellte sich hinter dem Kasten auf, um Murat aufzufangen. Zusammen rollten sie auf die dicke Matte. Drakula drückte ihm fest den Arm, und Murat fühlte sich nicht mehr ganz so verloren. Trotzdem war er froh, als es zur Pause klingelte.

In der letzten Stunde war Musik angesagt. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, trällerte die Lehrerin und teilte Arbeitsblätter aus. Kurz vor Ende der Stunde klatschte sie in die Hände: »Kinderchen, jetzt singen wir noch einmal Eines Morgens in aller Frühe!« Sie rückte einen Notenständer vor die Tafel und händigte Murat das Blatt mit Text und Noten aus, während alle anderen noch in den Taschen danach wühlten. »Dragole, komm doch kurz her, mein Junge, ja?« Die Mädchen kicherten. »Singst du uns die Melodie einmal vor, damit wir uns alle darauf einstimmen können, bevor wir zusammen singen? Ja? Also, eins, zwei...« Und Drakula sang wie ein Engel. Murat blieb der Mund offen stehen. Wie konnte aus diesem Bengel, der die Fäuste auch benutzte, wenn er sie ballte, so eine Stimme kommen? Frau Garcia-Mendez gab das Zeichen zum Einsatz und die Mädchen und ein, zwei Jungen sangen den Refrain mit: »Bella biao, bella ciao, bella ciao ciao ciao...« Der Rest packte schon die Taschen. Als Drakula auf seinen Platz neben Murat zurückkam, war sein Gesicht knallrot. »Wie schön du singst!«, flüsterte Murat ihm zu. Doch Drakula knurrte: »Halt bloß die Klappe!«

Bevor die beiden Jungen sich an der Bushaltestelle trennten, stieß Murat Drakula leicht an die Schulter: »Bis morgen, Drakula!« Statt einer Antwort aber drehte Drakula sich um und rannte weg. Murat stand verdattert da. »Hey, was ist los?«, rief er hinter Drakula her und »warte doch!« Schon war er ihm auf den Fersen. Drakula war flink, aber Murat war fest entschlossen, den neuen Freund nicht einfach so gehen zu lassen. Als er ihn eingeholt hatte, schlug Drakula mit Fäusten auf ihn ein, doch Murat packte ihn bei den Handgelenken und schüttelte ihn – so machte Mutter das immer, wenn er zu übermütig war, wie sie es nannte. »Was ist los, Dicker? Ich dachte wir sind Freunde?«, fragte Murat außer Atem und merkte plötzlich, dass Drakula Tränen übers Gesicht liefen.

»Du bist ja auch nicht besser als die anderen!«, schluchzte er, und Murat spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er hatte etwas falsch gemacht, aber was? Drakula versuchte, seine Hände aus Murats Griff zu befreien, doch Murat ließ nicht locker. »Sag mir, was los ist, sonst stehen wir morgen früh noch hier!«, schrie er fast, um dem Kloß in seinem Hals keine Chance zu lassen.

Drakula blitzte Murat wütend an und fauchte: »Du hast auch dieses Wort gesagt!«

»Was? Welches Wort denn?«

»Na, Drakula!«

»Aber heißt du denn nicht so?«

Drakula heulte auf und tobte unter Murats Griff.

Hatten nicht auch die Lehrer ihn so gerufen? Murat fiel ein, dass die Musiklehrerin etwas anderes gesagt hatte, und richtig liebevoll hatte das geklungen:

»Dragole ...«, kam es Murat zögernd über die Lippen. »Aber warum sagen denn alle Drakula zu dir und wieso wehrst du dich nicht dagegen, wenn's dir nicht passt?«

»Weißt du, wir kommen doch aus Rumänien. Als ich im November neu in die Klasse gekommen bin, stellte der Lehrer mich vor. ›Das ist Drago aus Rumänien‹, hat er gesagt und die Klasse gefragt: ›Wisst ihr denn, wo Rumänien ist?‹ Der fette Igor hat gerufen: Da kommt doch Drakula her! Alle haben gelacht und einer hat noch ›Zigeuner‹ gerufen. Igor hab ich gleich in der ersten großen Pause verdroschen, aber genützt hat es nichts.«

Murat legte ihm den Arm um die Schulter. »Drago, du bist mein Freund. Ich weiß nicht viel über Graf Drakula, aber vielleicht war der gar kein so schlechter Kerl!»

Drakula lachte. »Nee, nee, der war schon wirklich schlimm!«

»Aber nicht schlimmer als Iwan der Schreckliche, oder?«

»Wieso?«

»Na, wenn Igor dich wieder Drakula ruft, nenn du ihn doch einfach Iwan der Schreckliche oder Rasputin oder so!«

Drakula machte große Augen. »Woher kennst du die denn?«

Murat dachte an Merlin und Artus, das Buch, das zu Hause unter dem Kopfkissen auf ihn wartete. Historische Romane waren seine große Leidenschaft. Er schmunzelte. »Ach, das erzähl ich dir ein anderes Mal! Komm, Drago, wir gehen jetzt erstmal Eis essen. Magst du lieber Erdbeer oder Stracciatella?«

Er war froh, die zwei Euro, die Mutter ihm am Morgen gegeben hatte, noch in der Tasche zu haben. Drakula entschied sich für Erdbeereis: »Weil das fast so rot ist wie Blut, Blutsbruder!«

© Sabine Adatepe
Der Bunte Hund 71, August 2005 (Beltz&Gelberg)
Illustration von Martina Wildner für den Bunten Hund


Weitere Texte aus dieser Serie im "Bunten Hund" (2005-2006):
Murat und Satan (Der Bunte Hund 72): Murat wünscht sich einen Hund
Post für Murat (Der Bunte Hund 73+74): Murat bekommt Brieffreundinnen in der Türkei und in England
Murat und die Kopftuchfee (Der Bunte Hund 75): Murats Freundin Nuran trägt nur manchmal ein Kopftuch

 
     

© Sabine Adatepe 2010