Als er jetzt vor den 21 unbekannten Gesichtern stand, fühlte
er sein Herz richtig hämmern. Vielleicht klopfte es so
stark, weil er den ganzen Weg gelaufen war. Denn er wollte
auf keinen Fall am ersten Tag zu spät kommen. Außerdem
musste er doch das komische Gefühl loswerden, das ihm
im Magen brannte, seit Mutter die Haustür hinter ihm
geschlossen hatte.
»Das ist Murat. Du kommst aus der Türkei, nicht
wahr?«, fragte jetzt Herr Schmidt, der Deutschlehrer,
der Murat in die Klasse gebracht hatte.
»Ich komme aus Pinneberg«, protestierte Murat.
Die Mädchen kicherten und einige Jungen lachten. Irgendwo
hörte Murat aber auch eine andere Stimme, die rief: »Hoş
geldin, 'lan, Dicker!« Ein kleiner, aber kräftig
aussehender Junge mit einem wirren rabenschwarzen Haarschopf
in der zweiten Reihe lachte auch nicht, er funkelte den neuen
Mitschüler aus dunklen Augen nur neugierig an. Dieser
Junge war Murat vorhin schon auf dem Korridor aufgefallen,
da hatte er sich geprügelt und war erst kurz vor dem
Lehrer in den Klassenraum geflutscht. Und nun schob der Lehrer
Murat ausgerechnet zu diesem Jungen hinüber!
»Gut, also Murat aus Pinneberg, setz dich da zu Drakula,
damit du nicht von Anfang an nur Türkisch quatscht!«
Murat glaubte, sich verhört zu haben. Hatte der Lehrer
»Drakula« gesagt? So konnte der Junge doch nicht
heißen! Murat setzte sich zu dem Jungen, der bereitwillig
seine Sachen beiseite schob. Die ganze Klasse feixte: »Frisches
Blut für Drakula! Ein neues Opfer für Drakula!«
Vor Aufregung kriegte Murat die ersten Stunden gar nicht richtig
mit und war nur froh, dass er nicht aufgerufen wurde. In der
großen Pause nahm Drakula ihn mit auf den Hof. »Komm,
ich kauf Cola für uns beide!«, schlug er vor. Murat
steckte noch seine Pausendose ein: Tomate und Gurke, ein Pfirsich,
Müsliriegel und Käsebrot. Drakula riss die Augen
weit auf und freute sich, als Murat ihm den halben Pfirsich
und das ganze Käsebrot überließ. Murat aß
sowieso viel lieber Wurstbrot.
Sport war schrecklich. Murat hasste Turnen. Frau Schmidt sah
mit ihrem Bürstenschnitt und dem durchtrainierten Körper
eher aus wie ein Herr Schmidt, aber trotzdem bevorzugte sie
die Mädchen, darin waren sich die Jungen einig. Die Jungsriege
grätschte über den Kasten. Drakula hüpfte behende
wie ein Eichhörnchen hinüber und stellte sich hinter
dem Kasten auf, um Murat aufzufangen. Zusammen rollten sie
auf die dicke Matte. Drakula drückte ihm fest den Arm,
und Murat fühlte sich nicht mehr ganz so verloren. Trotzdem
war er froh, als es zur Pause klingelte.
In der letzten Stunde war Musik angesagt. »Erst die
Arbeit, dann das Vergnügen«, trällerte die
Lehrerin und teilte Arbeitsblätter aus. Kurz vor Ende
der Stunde klatschte sie in die Hände: »Kinderchen,
jetzt singen wir noch einmal Eines Morgens in aller Frühe!«
Sie rückte einen Notenständer vor die Tafel und
händigte Murat das Blatt mit Text und Noten aus, während
alle anderen noch in den Taschen danach wühlten. »Dragole,
komm doch kurz her, mein Junge, ja?« Die Mädchen
kicherten. »Singst du uns die Melodie einmal vor, damit
wir uns alle darauf einstimmen können, bevor wir zusammen
singen? Ja? Also, eins, zwei...« Und Drakula sang wie
ein Engel. Murat blieb der Mund offen stehen. Wie konnte aus
diesem Bengel, der die Fäuste auch benutzte, wenn er
sie ballte, so eine Stimme kommen? Frau Garcia-Mendez gab
das Zeichen zum Einsatz und die Mädchen und ein, zwei
Jungen sangen den Refrain mit: »Bella biao, bella ciao,
bella ciao ciao ciao...« Der Rest packte schon die Taschen.
Als Drakula auf seinen Platz neben Murat zurückkam, war
sein Gesicht knallrot. »Wie schön du singst!«,
flüsterte Murat ihm zu. Doch Drakula knurrte: »Halt
bloß die Klappe!«
Bevor die beiden Jungen sich an der Bushaltestelle trennten,
stieß Murat Drakula leicht an die Schulter: »Bis
morgen, Drakula!« Statt einer Antwort aber drehte Drakula
sich um und rannte weg. Murat stand verdattert da. »Hey,
was ist los?«, rief er hinter Drakula her und »warte
doch!« Schon war er ihm auf den Fersen. Drakula war
flink, aber Murat war fest entschlossen, den neuen Freund
nicht einfach so gehen zu lassen. Als er ihn eingeholt hatte,
schlug Drakula mit Fäusten auf ihn ein, doch Murat packte
ihn bei den Handgelenken und schüttelte ihn – so machte
Mutter das immer, wenn er zu übermütig war, wie
sie es nannte. »Was ist los, Dicker? Ich dachte wir
sind Freunde?«, fragte Murat außer Atem und merkte
plötzlich, dass Drakula Tränen übers Gesicht
liefen.
»Du bist ja auch nicht besser als die anderen!«,
schluchzte er, und Murat spürte, wie sein Herz zu rasen
begann. Er hatte etwas falsch gemacht, aber was? Drakula versuchte,
seine Hände aus Murats Griff zu befreien, doch Murat
ließ nicht locker. »Sag mir, was los ist, sonst
stehen wir morgen früh noch hier!«, schrie er fast,
um dem Kloß in seinem Hals keine Chance zu lassen.
Drakula blitzte Murat wütend an und fauchte: »Du
hast auch dieses Wort gesagt!«
»Was? Welches Wort denn?«
»Na, Drakula!«
»Aber heißt du denn nicht so?«
Drakula heulte auf und tobte unter Murats Griff.
Hatten nicht auch die Lehrer ihn so gerufen? Murat fiel ein,
dass die Musiklehrerin etwas anderes gesagt hatte, und richtig
liebevoll hatte das geklungen:
»Dragole ...«, kam es Murat zögernd über
die Lippen. »Aber warum sagen denn alle Drakula zu dir
und wieso wehrst du dich nicht dagegen, wenn's dir nicht passt?«
»Weißt du, wir kommen doch aus Rumänien.
Als ich im November neu in die Klasse gekommen bin, stellte
der Lehrer mich vor. ›Das ist Drago aus Rumänien‹, hat
er gesagt und die Klasse gefragt: ›Wisst ihr denn, wo Rumänien
ist?‹ Der fette Igor hat gerufen: Da kommt doch Drakula her!
Alle haben gelacht und einer hat noch ›Zigeuner‹ gerufen.
Igor hab ich gleich in der ersten großen Pause verdroschen,
aber genützt hat es nichts.«
Murat legte ihm den Arm um die Schulter. »Drago, du
bist mein Freund. Ich weiß nicht viel über Graf
Drakula, aber vielleicht war der gar kein so schlechter Kerl!»
Drakula lachte. »Nee, nee, der war schon wirklich schlimm!«
»Aber nicht schlimmer als Iwan der Schreckliche, oder?«
»Wieso?«
»Na, wenn Igor dich wieder Drakula ruft, nenn du ihn
doch einfach Iwan der Schreckliche oder Rasputin oder so!«
Drakula machte große Augen. »Woher kennst du die
denn?«
Murat dachte an Merlin und Artus, das Buch, das zu Hause unter
dem Kopfkissen auf ihn wartete. Historische Romane waren seine
große Leidenschaft. Er schmunzelte. »Ach, das
erzähl ich dir ein anderes Mal! Komm, Drago, wir gehen
jetzt erstmal Eis essen. Magst du lieber Erdbeer oder Stracciatella?«
Er war froh, die zwei Euro, die Mutter ihm am Morgen gegeben
hatte, noch in der Tasche zu haben. Drakula entschied sich
für Erdbeereis: »Weil das fast so rot ist wie Blut,
Blutsbruder!«
©
Sabine Adatepe
Der Bunte Hund 71, August 2005 (Beltz&Gelberg)
Illustration von Martina Wildner für den Bunten Hund
Weitere Texte aus dieser Serie im "Bunten Hund"
(2005-2006):
Murat und Satan (Der Bunte Hund 72): Murat wünscht sich
einen Hund
Post für Murat (Der Bunte Hund 73+74): Murat bekommt
Brieffreundinnen in der Türkei und in England
Murat und die Kopftuchfee (Der Bunte Hund 75): Murats Freundin
Nuran trägt nur manchmal ein Kopftuch