ORIENT. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients.
42. Jg. Nr. 4, Dezember 2001, S. 688-690

Buchbesprechung:

Klaus Kreiser: Istanbul. Ein historisch-literarischer Stadtführer. C.H. Beck Verlag. München 2001. 323 S. ISBN 3-406-47191-9

"Boza, Vefa-Bozaaaa...” hört man in den Wintermonaten den Boza-Verkäufer vom ersten Dämmerlicht bis spät in die Nacht hinein seine Ware anpreisen. Wenn die rauhe Stimme des einsamen Ausrufers mit dem Getränk in Blechkannen durch die nächtlichen Straßen tönt, wenn der föhnige Herbststurm Lodos längst durch den eisigen Nordoststurm Poyraz abgelöst ist, fühlt sich der Istanbuler so recht heimelig in den eigenen vier Wänden. Warum ein Verbot der Weinschenken und Kaffeehäuser 1567 auch die Boza-Läden miteinschloss, dass es sich bei der ausgerufenen Ware um Hirsebier schwachen Alkoholgehalts handelt, “ein einziger Tropfen” dessen “nicht wie beim Wein durch das Religionsgesetz verboten (haram)” ist, und bei Vefa um den Istanbuler Stadtteil mit dem berühmtesten Boza-Ausschank, ist nun bei Klaus Kreiser nachzulesen.

Der Bamberger Turkologie-Professor und profunde Istanbul-Kenner hat sich die Mühe gemacht, osmanische Quellen aus fünf Jahrhunderten nach Hinweisen auf die Istanbuler Stadtgeschichte auszuwerten und thematisch geordnet zusammenzustellen. Sein “historisch-literarischer Stadtführer” füllt mit diesem Blick der Osmanen auf sich selbst eine Lücke in der überbordenden Istanbul-Literatur im Reiseführer-Regal.

Zweiundzwanzig Kapital werfen Schlaglichter auf Alltagsleben und Architektonisches, auf Herrschergehabe und Hundeplagen, auf Militärisches und Menschliches in der sozialen, politischen und kulturellen Vergangenheit der osmanischen Hauptstadt, die ihren administrativen Rang 1923 der neuen türkischen Hauptstadt Ankara abtreten musste. Neben kürzeren Skizzen auf der Basis von Chroniken, Gesetzestexten, Statistiken finden sich lebendige Schilderungen aus Augenzeugenberichten, Memoiren, frühen Presseartikeln, Poesie oder Prosatexten in einem Reigen bekannter und unbekannterer Namen von großen Chronisten wie Evliya Çelebi und Hüseyin Ayvânsarâyî über Dichter wie Bâkо und Nedоm, Journalisten wie Mehmed Tevfоk und Ahmed Râsim bis zu Tagebuch- oder Memoirenschreiber wie Sa`оd Bey und Hagop Denizciyan.

Die Legende von Yanko, dem mythischen Stadtgründer römischen Ursprungs, der 2228 Jahre vor der muslimischen Eroberung der Stadt gelebt haben soll, macht den Anfang. Sieben Jahre lang ließ er Baumaterialien zusammentragen, um im achten Jahr mit vierzigtausend Soldaten, vierzigtausend Maurern und zweihunderttausend anderen Arbeitern die Stadtmauern zu errichten. Kreiser überlässt es dem Leser, hier im Zahlenspiel mythisch-mystische Dimensionen zu erkennen, wie er überhaupt sich jeder Kommentierung und leider auch manch sinnvoller Überleitung enthält. Wie fremde Geschichte in eigene Mythologie übersetzt, wie Theodosius zu Yanko mutierte, erfährt der Leser dann wie nebenbei in dem ausführlichen Kapitel zum einzigen historisch bedeutsamen großen Platz der Stadt, dem Hippodrom oder At meydanı.

“Ihr werdet bereitstehende Pferde besteigen und dann am Mausoleum von Ebâ Eyüb Ansârî demütig für einen glücklichen Ausgang der Dinge flehen...”, instruierte Melek Ahmed Pascha 1655 den Großwesir İbţir Pascha vor der “vielleicht größten Militärparade, die der Divanyolu gesehen hat”. Kreisers Wiedergabe von Evlîya Çelebis Augenzeugenbericht hier und an anderer Stelle zeichnet über die Schilderung von Teilnehmern und Aufbau der Aufzüge ein Soziogramm der osmanischen Staats-, Militär- und Gesellschaftsorganisation. Die Tränen, die “niemand halten konnte, als die Nachfahren des Propheten” einher schritten, beleben das historische Stimmungsbild.

Bei bereits ins Deutsche übersetzten Quellen greift Kreiser auf die meist von mehr oder minder literarisch ambitionierten Orientalisten angefertigten Übertragungen, wie hier von Annemarie Schimmel, zurück: “Komm, du wandelnde Zypresse, lass nach Saadâbâd uns gehen”, lädt der Dichter Nedîm im frühen 18. Jahrhundert in eine der Vergnügungshochburgen seiner Zeit. Wo der Reisende heute Stadtgewühl, Verkehrschaos und verschlickte Relikte des Goldenen Horns findet, lagen die “Süßen Wasser Europas”, gesuchte Naherholungsgebiete der Großstadt am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien. Nicht in diese unwiederbringlich verlorenen Parkanlagen an den Gewässern, die nach wie vor in beträchtlichem Maße das besondere Flair dieser Stadt ausmachen, doch in den Gülhane-Park unterhalb des Topkapi-Serails etwa führt noch heute viele Besucher ihr Weg. Erst 1913 wurde der ehemalige Palastgarten auf Betreiben des agilen Istanbuler Bürgermeisters Cemil Pascha (Topuzlu), von den Istanbulern ob seiner Profession “Operateur Cemil” genannt, der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Die zeitgenössische Jugendzeitschrift “Welt der Kinder” kritisierte das Fehlen von Spielplätzen, wie Kreiser mit der Wiedergabe eines offenen Briefes, gezeichnet von den “Istanbuler Kindern”, aufzeigt. Ob die Beschwerde Folgen ­ oder aufgrund der Kritik an der Obrigkeit gar Repressionen ­ zeitigte, enthält er jedoch dem nun neugierig gewordenen Leser vor.

Seit dem verheerenden Erdbeben nur knapp 100 km östlich von Istanbul im August 1999 berechnen die Istanbuler wieder einmal die durchschnittlichen Abstände zwischen den großen Katastrophen, die die Stadt mit unschöner Regelmäßigkeit heimsuchen. Kreisers Kapitel Katastrophen über Erdbeben und die allzu häufigen Brände ­ laut Autor einer der Gründe für den bedauerlichen Mangel an osmanischen Selbstzeugnissen ­ liefert auch hierzu historische Einsichten und zeigt, dass Fatalismus durchaus nicht im Widerspruch steht zu Hilfe und Zivilschutzmaßnahmen ­ allerdings stets nach der jeweiligen Katastrophe.

Neben mosaikhaften Versatzstücken aus Architektur, Städtebau und Stadtplanung über Moscheen, Paläste, Plätze, Brunnen, Friedhöfe und das Basarviertel mit oft anekdotischen Details zu Errichtern, Umbauherren oder Nutzern und durchaus geeignet, “den Orient” gehörig zu entzaubern, findet sich Wissenswertes über weniger oder nicht (mehr) Sichtbares: inner- und interreligiöse Beziehungen, mittelalterliche Organisation der Zünfte ­ deren Ausläufer jeder Istanbulbesucher in Form des Basars vor Augen hat ­, Amusement alter Zeiten, Kalendergewohnheiten oder auch pikante Hamam-Geschichten. Illustrationen, Zeittafeln und bibliographische Angaben, dem Orientalisten hier und da zu dürftig, ergänzen die Darstellung, die gewisse Vorkenntnisse über Termini ­ ein Glossar fehlt, osmanische Ausdrücke sind nicht immer hinreichend erläutert ­ und historisches Umfeld beim Leser voraussetzt.

Doch in einer Zeit, da wieder einmal der Blick “des Eigenen auf das Fremde” und umgekehrt den Fokus aller Analysen zu bilden scheint, ist Kreisers Moderation des innerosmanischen Gesprächs durch die Jahrhunderte, der Auseinandersetzung eines Teils der islamischen Welt mit der eigenen Geschichte und Kultur geradezu eine Notwendigkeit. Hier entsteht beim Stöbern und Schmökern ganz privater Handlungsbedarf: selbst vor Ort die zahlreichen kostbaren literarisch-historischen Fundstücke zum Ganzen zu verweben, den “fremden Blick auf das Fremde” letztlich wieder zum eigenen zu machen.

© Sabine Adatepe 2001

 
     

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