Begegnungen
aus der Tintenwelt 19. Jh.
Ideal
und Realité
Theodor Storm besucht Iwan S. Turgenjew 1865 in Baden-Baden
»Husum,
24. August 1865...«
Storm
hob den Kopf und lauschte
der Amsel, die draußen vor dem Sprossenfenster den jüngst angebrochenen Tag bejubelte. Der
Feder, noch nass von frischer Tinte, sei die Rast gegönnt. Trotz
der frühen Stunde hatte sie bereits ein halbes Tagewerk vollbracht.
Nun sann der emsige Korrespondent, Richter und Landvogt zu Husum
und, gestatten, pensionierter Dichter, wie der längst über den
niederdeutschen Norden hinaus geschätzte Schriftsteller mit
einer Prise Wehmut und Koketterie sich neuerdings gern vorzustellen
pflegte, über die geeignete Anrede für das letzte Billett an diesem Morgen nach, bevor
er sich qua Amt in criminalia begeben würde. Die Feder ruhte
in der Schale. Die Einladung musste her! Wie noch hatte Pietsch
geschrieben? »Es wäre ganz lächerlich, wenn Du hier anderswo
als bei ihm Quartier nähmest« – nun, eine Lächerlichkeit
durfte keinesfalls begangen sein. Storm schmunzelte in seinen
Bart, rückte den Binder zurecht, bevor er sich vom Sekretär
erhob und an den Bücherschrank
trat. Da stand der schmale Band, bescheiden gebunden, noch wie
neu: ›Aus dem Tagebuche eines Jägers‹. Dem Verleger Schindler
anempfohlen vor mehr als einem Jahrzehnt nun schon. Fast zärtlich
blätterte er durch die Seiten und lächelte still bei
der Erinnerung an den Disput mit Übersetzer Viedert über das
harmlose Tanzliedchen der ›Sänger‹. Die elf Skizzen waren doch
famos, haben in Russland geradezu einen Sturm ausgelöst, bis
endlich vor kaum fünf Jahren nun der Zar sich erbarmte, dem
Übel der Leibeigenschaft ein Ende zu setzen. Wahrlich, es hat
sich gelohnt, die Übersetzung zu vermitteln damals! Welch eine
Freude, nun den couragierten Verfasser persönlich kennen lernen,
gar bei ihm logieren zu dürfen, der beizeiten um seines öffentlichen
Engagements willen Haft und Verbannung auf sich genommen!
Beschwingt
vom hehren Einsatz des großen russischen Kollegen griff Theodor
Storm erneut
zur Feder und schrieb – »Verehrter Herr« – in einem Zuge in
aufrichtiger Bewunderung seinen Dank für die freundliche Einladung.
»Sehen Sie mir bitte die säumige Antwort nach, doch bin erst
jetzt ich abkömmlich und kann endlich die ersehnte
Reise antreten. Anfang September, verehrter Turgenjew, treffe
ich in Baden-Baden ein.«
Husum,
nicht wirklich grau, doch auch im Sommer ob der nordseenahen
Lage nie ohne frische Brise, war für schleswig-holsteinische
Verhältnisse schon heiß in jenem Jahr. Die Bahnreise mit Stippvisiten
in Minden und in Frankfurt führte den kühlen Niederdeutschen
stetig fort von seinem Kummer – Kindbettfieber hatte vor drei
Monaten erst die Gattin und treue Gefährtin
viel zu früh von seiner Seite genommen – und mitten hinein
in die glühende Hitze der europäischen Kur-Metropole. Baden-Baden
war in diesem Spätsommer schwül nicht allein aufgrund der
bei Hoch- und Geldadel so beliebten Lustbarkeiten und Frivolitäten.
In allen nur erdenklichen Färbungen und Wendungen, Akzenten
und Schattierungen, von elegant bis stümperhaft, von leis
schmeichelnd bis roh gegrölt, erklang das Französische hier
allerorts als Langue courante. Ein russischer Fluch, eine
spanische Phrase, ein deutscher Befehl mischten sich zuweilen
wie verschämt darunter.
Storm
setzte kaum den Fuß auf den Perron, das spärliche Reisegepäck
in der Linken, da hatte Ludwig Pietsch ihn schon entdeckt
und wühlte sich durch die Menge. »Lieber Theo, da bist du
endlich! War die Fahrt auch angenehm?« Unter mancherlei Geplauder
beförderte der agile Freund ihn samt Bagage in eine Droschke,
und auf ging’s
in die Schillerstraße. Man wurde erwartet und mit großer Geste
willkommen geheißen: neben Frau Anstett, deren repräsentatives
Heim mehr Pension denn Wohnhaus war, stand Turgenjew, Iwan
Sergejewitsch, der seit zwei Jahren schon hier residierte;
gefesselt an Baden-Baden,
solange die Viardot hier weilte – die Operndiva und innige
Freundin des großen Russen, seit er sie gut zwei Jahrzehnte
zuvor in Petersburg auf der Bühne erlebt hatte und sogleich
ihrem Charme und ihrer Kunst verfallen war. Turgenjew drückte
dem fast gleichaltrigen Kollegen aus dem Norden freundschaftlich
die Hand und führte ihn auf sein Zimmer: »Richten Sie sich
ein, ruhen Sie sich aus, lieber Storm, und kommen Sie dann
frisch und munter bald in unseren Kreis herunter, denn wir
wollen noch hinaus ...«
Überwältigt
von so viel Leben auf den vor Menschengewimmel und Sommerhitze
flirrenden Straßen, von so viel Freundschaft und so viel Aufsehen
um seine Person, bar auch des gewohnten mittäglichen Schlummers,
hätte Storm gern ein halbes Stündlein die Augen zugetan, die
Stirne gekühlt. Doch die freundschaftliche Ermahnung seines
Gastherrn ließ ihn in aller Eile nur knapp Toilette machen,
um mit frischem Hemd und feuchtem Bart und Schläfen sich rasch
wieder einzufinden in der Anstettschen Stube, wo Turgenjew
lässig auf dem Diwan lagernd und Freund Pietsch zwischen Veranda
und Kamin ungeduldig auf und nieder wandelnd seiner harrten.
Hinaus
ging es gleich, munteren Schrittes über die Oos, hier tief
gelegen und breit, noch die Lichtenthaler Allee überquert,
zu beiden Seiten von mächtigen Eichen gesäumt, Safrane und
Herbstzeitlosen in üppiger Fülle darunter, dann die Thiergartenstraße
hinan. Turgenjew mit einem milden Lächeln auf den Lippen schien
in Gedanken versunken, nur hin und wieder verwies er links
und rechts auf Schlösser und Prachtvillen. Während Storm den
Kopf wandte, um durch das wuchernde Grün, unter das sich hie
und da ein Hauch von Gelb und Rot schon schlich, die erwähnten
Bauten zu entdecken, erging Pietsch sich lang und breit über
Leben und Schaffen der jeweiligen Eigner. Noch währte das
Gelächter ob einer Schnurre über Fürst Menschikow, als der
russische Dichter Storm am Arm fasste: »Und hier, lieber Freund,
sehen Sie nur recht hin, hier entsteht das Théatre du Thiergarten!«
Da lag in weitläufigem Garten ein Anwesen mit Villa, einem
Prachtbau aus Holz, und mehreren Pavillons, einige noch im
Bau. »Ach, lieber Storm, verfallen Sie nur nicht gleich mir
dem Charme meiner lieben Nachbarin, noch bevor Sie sie zu
Gesicht bekommen«, lachte Turgenjew und lenkte Storms Blick
nach nebenan auf einen mächtigen Rohbau. »Villa Turgenjew!«
erläuterte Pietsch, entfaltete
architektonische Details der Epoche Louis XIII. und schloss:
»Ein französisches Château lässt unser russischer Homme de
lettres auf badischem
Boden sich hier errichten.« Die beiden mussten sich sputen,
denn Turgenjew war auf dem breiten Kiesweg zur Nachbarvilla
weit vorangeschritten.
Man
fand freundliche Aufnahme bei Viardots, auch wenn Madame und
Monsieur noch im Theater in der Stadt weilten. Storm wurde
herumgeführt, durfte einen Blick in den Orgelsaal werfen.
Pietsch freute sich, ihm die Einladung zur Matinee am kommenden
Sonntag zu übermitteln, und als die Hausherren endlich eintrafen,
setzte man sich gemütlich zum Tee. Wie selbstverständlich wurde Storm aufgenommen;
Turgenjew bat, wenn er schon nicht auf Französisch zu parlieren
verstünde, doch Monsieur Viardot zuliebe einige französische
Worte wenigstens zu murmeln. Genant bemühte sich der bürgerliche
Niederdeutsche und erntete freudigen Zuspruch: »Da kommt
es ja heraus!« Doch mehr kam zu Storms Verlegenheit denn
nicht.
Zu
fortgeschrittener Stunde schon nötigte Turgenjew Madame, zu
Ehren des neuen Gastes doch eine Kostprobe ihrer Kunst zu
geben. Sie ließ sich nicht lange bitten, setzte sich an den
Flügel und drückte Fräulein von Görger die Noten in die Hand.
»Wir proben den Hidalgo, Mademoiselle«, rief sie und
warf Pietsch einen fast beleidigten Blick zu, als dieser Storm
zuraunte: »Madame Clara probt vermutlich das gleiche Stück
in Lichtenthal drunten, quelle chance!« Storm hob fragend
eine Augenbraue, doch Turgenjew legte den Zeigefinger an die
Lippen. Maîtresse und Élève ergänzten sich in Spiel und Gesang
so einzigartig, dass Storms Herz seit Monaten zum ersten Male
sich weitete und ihm das Leben wieder lebenswert erschien.
Es war die Meisterin, die dem Lied des deutschen Komponisten
eine so spanische Färbung gab, wie keine deutsche Sängerin
es je vermocht hätte. Die anwesenden Gäste applaudierten verzückt.
Turgenjew erklärte nun: »Madame Viardot und Madame Schumann
gastieren um anderthalb Wochen gemeinsam im Maison de Conversation«,
und erhob sich, als Louis Viardot allseits angenehme Nachtruhe
wünschte. Er nickte dem Hausherrn zu und bat Pietsch und Storm,
vor dem Heimweg ihn noch durch den Garten zu begleiten.
»Nach
dem heißen Tag und diesem Ausflug in die Sphären der hohen
Kunst haben wir uns eine Promenade durch die Natur so recht
verdient, Messieurs!« Begeistert entwarf er im aufgehenden
Mondlicht die Silhouette seiner Villa, die nebenan entstand,
und führte die Herren an eine fröhlich plätschernde Quelle.
»Laben Sie sich nur!« forderte er auf, beide Hände schon ins
kühle Nass getaucht. »Ah! Es gibt nichts Köstlicheres nach
Wein und Tee.« Storm schloss sich an, nachdem auch Pietsch
geschöpft und getrunken hatte. Ein wenig lächerlich schien
ihm der Stolz, mit dem Turgenjew das schlichte Wasser einem
Goldschatze gleich pries. Doch er schrieb es der Naturverbundenheit
seines Gastherrn zu, und die war ihm sympathisch.
Mit
Pietsch wanderte Storm am nächsten Morgen zum alten Schloss
hinauf und genoss bei einem Glas guter Milch mit Kaffee den
Blick über die Rheinebene. Auch führte Pietsch den widerstrebenden
Gast durch Kur- und Trinkhalle und manchen Spielsaal. »Wenn
du schon einmal hier bist, musst du gesehen haben, was die
Welt des Adels herzieht!« insistierte der junge Freund und
vermittelte dem nüchternen Schleswig-Holsteiner, der sich
stets im Kreise der Familie fern der großen Welt am wohlsten
fühlte, einen Eindruck davon, wie Monde und Demimonde hier
bei allerlei Amüsement ihr Geld vertaten.
Im
Einklang mit der Welt und mit sich selbst fühlte sich Storm
hingegen in der freien Natur, worin er sich einig war mit
seinem russischen Gastherrn. Als dieser eines Morgens
bat, ihn zum Geroldsauer Wasserfall zu begleiten, stimmte
Storm denn auch freudig zu. Der Weg durch den Wald, an bizarren
Felsformationen entlang, unter mächtigen Tannen dem Grobbach
entgegen, nahm die beiden Wanderer gefangen. Turgenjew erzählte,
lebhaft und anschaulich, verstand es mit eigentümlichem
Zauber, in kurzen Strichen Menschen und Ereignisse wiederzugeben.
Erst nach dem großartigen Blick von der Badener Höhe ins Tal
hinab wandte sich die Plauderei gewichtigen Themen zu. Von
Mutter Natur tief inspiriert, lobte Turgenjew in höchsten
Tönen ›Madame Bovary‹. Storm schwieg, hatte er den Band doch
nicht gelesen, auch wenn er seine Franzosen en général wohl
kannte. »Es ist mir doch zu stofflich, das Vereinzelte
zu wenig zu lebendigen Scenen verarbeitet. Ich bedarf auch
in der Novelle ein wenig dramatisches Leben.«
»Nun
sagen Sie bloß nicht, Ihr Husum sprühe vor Lebendigkeit!«
»Der
Schalk schwingt in Ihrer Rede mit, werter Freund, und angesichts
der biederen Beschaulichkeit hier und in Ihren Werken – nein,
brausen Sie nicht auf, es geht ums Colorit, ums Hintergrundgemälde
des Erzählens hier – ja, angesichts der Abwesenheit selbst
der doch sprichwörtlich russischen Winter in Ihren Werken,
da möcht' Ihnen Husum grau und triste und weit vom gewöhnlichen
Menschenverkehr scheinen.«
»Doch
Sie zieht's hin und kaum sind Sie einmal fort, da flammt die
Sehnsucht auf. Warum nur, teurer Freund?«
Und
Storm schwärmte von Möwen über Krabbenkuttern, von Gischt
und Brandung, von Stunden unter Sandregenpfeifern, Säbelschnäblern,
Austernfischern im uferlosen Watt, von verwitterten Gesichtern
hinter struppigen Bärten, von einst grazilen Frauen, die Hände
ledern gegerbt von Arbeit und Enttäuschung, von Landunter
auf der Hallig und langen Winterabenden im Koog – da war er
in seinem Element und übersah gern das Lächeln in den Augenwinkeln
des gütigen russischen Freundes.
»Ja,
all das spricht aus Ihren Werken. Gemeinsam ist uns doch das
Interesse an den Menschen, an ihrem
oft so vergeblichen Kampf gegen das Wirken der Welten und Schicksalsgewalten.« Turgenjew ließ den Blick über die
sanften Hügel schweifen. »Mag sein«, setzte er dann hinzu,
»dass, mehr als uns bewusst, die Handschrift eines jeden von
uns aber doch von der Natur geprägt ist, die er täglich sieht,
vor dem Fenster, auf den Spaziergängen und auch vor dem inneren
Auge als ein Ideal.«
Storm
hob die Brauen. »Genau da liegt der Hund begraben! Sie breiten
englischen Rasen aus und ordnen Ihre Gestalten zum Spiel darauf.
Ich jedoch ...«
»Sie,
ach, Sie wissen den trutzigen Backstein hinter sich, die wild
wirbelnden Wolken über sich und trotzen Ihre Figuren der Brandung
der Realité ab, nicht wahr?« Der Russe strich sich eine Strähne
aus der Stirn und lachte. »Kommen Sie, verehrter Storm! Genießen
Sie den Blick hier über das Tal und lassen Sie die letzten
Schwalben dieses Sommers Ihr Herz in luftige Höhen entführen!
Ideal und Realité sind zwei Seiten derselben Medaille!«
»Oh,
das passt Ihnen wohl ins Konzept. Doch wenn Sie täglich das
gemeine Volk erlebten, wie ich kraft meines Amtes, ihre kleinlichen
Querelen und großen Kämpfe, dann sähen Sie wohl, dass selbst
Ihre Realité noch zu definieren wäre!«
»Das
will ich nicht bestreiten. Au contraire, mon cher: um eben
diese in all ihren Aspects aus tausenderlei Schalen zu pulen,
eben darum schreiben wir doch!« Er fasste den Husumer am Arm
und wies zum Weiher hinunter. »Da, sehen Sie, ein Schwanenpaar,
wie geschaffen für diese Landschaft hier, n'est-ce pas?«
Storm
grummelte noch, doch sein Herz war längst besiegt, gab es
doch in der Sache kaum einen Widerspruch, nur in der Form,
ach, immer wieder in der Form! Auch dieses Französisch war
so eine Causa, leicht beschwingt kam es daher, tänzelte galant auf allen
Hochzeiten. Wo war die Tiefe, die Erdenschwere, die Storm
zu jeder Literatur benötigte? Durfte er trotz seiner allzu
geringen Kenntnisse des fremden Idioms den sprachgewandten
Freund mit solchen Gespinsten behelligen? Turgenjew schmunzelte,
als der Niederdeutsche zögernd seinem Argwohn Ausdruck gab.
»Und euer Deutsch kommt schwer und doch präzis daher. Immer
gerade heraus, bon, das lob ich mir. Ab und an mangelt's mir
aber doch an Melodie, an Sentiments und Seele.« Sein Blick ging
in die Ferne, als er an die Briefe dachte, die er Pauline
geschrieben Jahr und Tag: Was
zu intim, was nur für sie und ihn bestimmt, das hatte deutsch
sich zu fügen in die französischen Zeilen.
Nach
der langen Wanderung ruhte man aus an einem der Tischchen
unter der mächtigen Rosskastanie vor dem Maison de Conversation.
»L'arbre russe, hier trifft sich toute la Russe d'Exile«,
hatte Turgenjew erklärt und in die untergehende Sonne geblinzelt,
bevor er mit verschwörerischer Miene dem Gast Bemerkungen
zuwarf über manch exzentrische Gestalt, die mal mit, mal ohne
Gruß ins Gebäude eilte, »an den Spieltisch natürlich«, wie
er verächtlich hinzufügte. Das Kirschwasser löste ihm die
Zunge und bald bekam Storm Anekdoten zu hören über Fürsten
und Fürstinnen, Offiziere und Diplomaten, über Dames und Desmoiselles.
»Ach, dieses Baden-Baden! Alle kriechen hierher wie die
Schaben!« lachte der russische Beobachter und klopfte
Storm in traulichem Einvernehmen auf die Schulter. In der
Ferne tauchte unter den Kastanien eine Gestalt auf, schlich
im abgetragenen Frack mit schütterem Haar und wirrem Bart
heran. Turgenjew legte die Hand halb über den Mund. »Fjodor
Michailowitsch«, flüsterte er dem Nachbarn zu. »Ihr Landsmann
Dostojewskij?« rief Storm erstaunt, »wollen Sie ihn denn gar
nicht begrüßen?« Turgenjew winkte ab. »Ich bin ihm nicht russisch
genug.« Er strahlte sein Gegenüber an, während sein Landsmann,
ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, im Maison de Conversation
verschwand, aus dem jetzt ein Potpourri Straußscher Walzer
erklang.
Während
drinnen im Spielsaal der Betrieb gerade erst in Gang kam, begaben sich die beiden zum
Diner in die Villa Viardot. Der intime Kreis des ersten Abends
war erweitert, doch noch überschaubar, wie Storm erleichtert
feststellte. Freudige Erwartung auf die Hausmusik im Anschluss
an die Tafel hatte ihn den ganzen Tag erfüllt. Und er wurde
nicht enttäuscht. Nach Rubinsteins Wanderers Nachtlied
im Duett rief Turgenjew: »Mesdames, und nun endlich Mörike,
nous vous prions!« Madame Viardot zwinkerte ihm zu und gab
Mademoiselle von Görger das Zeichen zum Einsatz:
»Kein
Schlaf noch kühlt das Auge mir / Dort
gehet schon der Tag herfür ...«
Storm
konnte nicht umhin, die Zeilen im Geiste mitzusummen:
»Es
wühlet mein verstörter Sinn / Noch
zwischen Zweifeln her und hin ...«
Die
»Nachtgespenster« empfand Storm mit solcher Inbrunst, dass
Madame Viardot ihm einen erstaunten Blick zuwarf. Kaum war
der letzte Ton verklungen, orderte sie Pietsch zu sich, den
Blick auf Storm, und beugte sich zu seinem Ohr. Freudestrahlend
nickte Pietsch und bat den Freund heran. »Als Leiter des Gesangsvereins
zu Heiligenstadt in glücklicheren Tagen«, er lächelte verzeihend,
hob die Stimme und lud mit großer Geste den Saal zum Zuhören
ein, »bitten wir dich, enthalte uns deinen wunderbaren Tenor
nicht vor!« Verlegen und beglückt zugleich trat Storm vor,
einigte sich rasch mit Madame und sang:
»Schlaf
nicht mehr! Die Morgenlüfte / Rütteln
schon an Deiner Thür;
Längst
erwacht sind Klang und Düfte / Und
mein Herz verlangt nach Dir ...«
Madame
Viardot erhob sich vom Schemel und reichte ihm die Hand: »Bravo,
Herr Storm!«
Bis
gegen Mitternacht wurde parliert und musiziert, und auf dem
Heimweg sprach Turgenjew allen aus den Herzen, als er andächtig
äußerte: »Quelle artiste! Ihre gewaltige Stimme ist ja
nicht mehr so jung und schön wie einst, und doch sind alle
anderen Sängerinnen nur Singvögel gegen sie! Bei ihr hört
man immer das Rauschen von Adlerschwingen.« Storm hörte
aus einem der Prachtgärten am Oosbach ein Käuzchen rufen.
Den
Sturm des wunderbaren Abends noch in der Brust, fand man sich
am nächsten Morgen, einem strahlenden Sonntag, zur Matinee
erneut bei Viardots ein. Schmucke Equipagen standen schon
längs der silbrigen Kieswege, als Storm und Pietsch eintrafen.
Im Orgelsaal drängten sich die Menschen, vor Fracks und Haute
toilette fühlte Storm sich fremd. »Sie singt heut' selbst«,
erläuterte unvermeidlich Pietsch. »Meist treten ihre Elevinnen
an den Sonntagen hier auf. Doch es ist hohe Prominenz im Saal.
Contenance also bitte, mein Lieber, auch wenn dir das Diamantengeklimper
auf die Nerven geht!« Anton Rubinstein saß am Flügel, und
Storm entdeckte König und Königin unter den Gästen, nachdem
Pietsch ihn zu Turgenjew gesetzt hatte, um selbst mit Skizzenblock
und Zeichenstift den Augenblick zu verewigen. Storm war froh,
den Vorabend in so viel intimerer Atmosphäre unveräußerlich
im Schatzkästlein glücklicher Erinnerungen zu haben.
»Bonne
nuit, die Herren!« Madame Viardot verabschiedete die beiden
Literaten, die am letzten Abend Storms vor dem Heimweg in
die Schillerstraße noch eine Runde durch den Garten vorhatten,
mit einem verwunderten Blick auf den Gast. »Herr Storm, sah
ich Sie nicht heute morgen Schlag sechse schon spazieren gehen?
Wie nur sind Sie heut' um diese Zeit noch so munter? Oder«,
fügte sie mit einem Zwinkern zu Turgenjew hinzu, »oder sollten
die Herren Geheimnisse haben, die nicht für mein weibliches
Ohr bestimmt sind?« Storm, müde zwar wie früh an jedem Abend,
doch wach gehalten von der Aussicht auf ein freundschaftliches
Zwiegespräch mit dem bewunderten Freund, war der Blickwechsel
zwischen der Hausherrin und ihrem russischen Verehrer nicht
entgangen. Die Einmütigkeit, die er hier erspürte, rührte
wie ein Stich an den unverwundenen
Schmerz ob des frischen Verlustes Constanzens. Jäh wurden
ihm die Augen feucht, und er senkte den Blick. Turgenjew nahm
Paulines Hand und brummte, ein wenig weinselig schon: »Liebste
Freundin, erlauben Sie uns zwei alten Burschen das Vergnügen
eines späten Tête-à-tête!«
Noch
einmal malte Turgenjew die künftige Gestalt seines Schlösschen
aus, märchenhaft im Mondenschein, noch einmal musste der norddeutsche
Gast von dem Wasser der Quelle kosten. Endlich saß man bei
Anstetts in der Stube, Turgenjew bat noch auf ein Wort und
schenkte dem Gast vom guten Affenthaler ein.
»Mein
lieber Storm, lassen Sie mich Ihnen zum Ausklang dieser eindrucksreichen
Tage noch ein Dessert
servieren.« Er setzte sich im Sessel zurecht, schwenkte den
Badenser Roten in der Rechten und hing
für Augenblicke versonnen wohl dem Weingeist nach. Als Storm
schon glaubte, die versprochene Episode sei verschoben, und
sich anschickte, den Abend zu beenden, blickte der Russe auf
und schien wie aus anderen Welten aufzutauchen. »Das Französische«,
er schmunzelte, »öffnet bekanntlich so manche Türen.« Bevor
Storm noch Zeit zum Genieren fand, beschwichtigte sein weltgewandtes,
sprachbegabtes Gegenüber: »Oh, nein, verzeihen Sie, keinesfalls
wollte ich an Ihre Verlegenheit rühren. Ich bitte Sie! Ich
will hinaus auf einen großen französischen Komponisten, Genius
in seinem Fache, den ich die Ehre hatte vor einigen Jahren
in Courtevenal, ja, naturellement, bei Pauline, kennen zu
lernen. Er war damals längst über diese Geschichte hinweg.
Übrigens hat er kürzlich mancherlei Sympathie mit wunderbarer
Inszenierung auch hier im Städtchen erobert. Als reifer Mann
schon hatte er sich einst bei der Aufführung eines seiner
eigenen Werke – bedenken Sie, sein eigenes Werk auf der Bühne
in Paris, und er, nun ja, er verliebt sich in die Hauptdarstellerin.
Eine kapriziöse Dame, die, trotz ihrer Grazie etwas Entschiedenes,
Schneidiges möchte ich sagen, hatte, ein starker Geist,
freizügig wohl im Charakter, doch von gütigstem Herzen. Und
eine Schönheit tout à fait. Unser Komponist nun wirbt um sie,
reist ihr hinterher von Paris nach London, nach Petersburg,
erfährt Wohlwollen hier, Ablehnung dort, Versöhnung und Verhöhnung
und enfin – die Glückseligkeit, erhört zu werden...«
Sphärischen
Klängen gleich schwebte bei
Turgenjews Worten eine Melodie im Raum. Ein Traum von Leidenschaft
zunächst, reich orchestriert. Ein Ball, ja, hier die erste
Begegnung begleitet von Harfen, hier dreht sich der Künstler
beim Walzer mit der Diva. Und sie erhört ihn, lässt sich auf
romantische Landpartien ein, beschwingt rollt der Wagen das
glückliche Paar durchs Blütenmeer. Doch kurz nur währt das
Glück. Opium muss her, muss betäuben, muss töten gar! Abrupt
der Szenenwechsel mit Pauken, Trompeten und – waren das nicht
Kirchenglocken? Um diese Nachtzeit hier im Kurort Baden-Baden?
Bleischwer geht es zum Richtplatz hinauf, das Ende, oh Gott,
Storm vernahm deutlich das Fallbeil niedergehen. Hohngelächter
bacchantischer Nymphen und Satyre, Oboen d'amore verzerrt,
verschroben, ein nächtlicher Sabbattraum – unwillkürlich hob
Storm die Hand zum Ohr.
»Sie
sind gerührt, cher ami? Voilà – les Français et la langue de la musique!« Turgenjew lachte
auf. »Verliebt, verlobt, verheiratet – so heißt es hier, nicht
wahr? Doch die Vereinigung der beiden ist nicht la bonne fin.
Nein, das Ende kommt, als der Komponist sich einer Jüngeren
zuwendet. C'est la vie. Doch sein Werk, inspiriert von der grande Passion für
die Muse, das blieb. Lieber Freund, haben Sie denn nie die
Symphonie fantastique erlebt?« Storm liebte Gesang,
doch ein Philharmoniker war er nicht.
Als
er an diesem Abend die Augen zur Nachtruhe schloss, hätte
er allerdings nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen vermocht,
ob er diesem symphonischen Abenteuer nicht doch gelauscht
hatte, bevor der russische Freund ihm davon sprach. Durfte
Storm dieses ungewöhnliche Dessert als Anspielung auf Madame
Pauline verstehen? Diese herrliche Frau höchster Genialität
und reinsten Menschentums, wie er es empfand und der Familie
daheim in Husum bereits schriftlich aufgegeben hatte. Welche
Prachtmenschen hatte er hier kennen gelernt! Verdiente nun
die Künstlerin des Gesangs das höhere Maß an Bewunderung oder
der Meister des Wortes? Bevor noch die Entscheidung fiel,
übernahm der Schlaf das Regiment.
»Mein
lieber und werther Gast!« las Storm zwei Monate darauf,
kaum dass er mit fliegender Hand das Siegel des soeben aus
Baden-Baden eingetroffenen Billetts
erbrochen hatte, im fahlen Spätherbstlichte in seinem Arbeitszimmer
zu Husum mit Blick auf die Süderstraße, wo laut ein Wagen
übers Pflaster ratterte – und ward sogleich beruhigt: »Auch
müssen Sie nicht darüber reflectiren, Sie hätten sich hier
nicht so ausgesprochen, wie Sie es eigentlich gewünscht hätten«,
schrieb der einfühlsame Mann von Welt, der wohl erkannt hatte,
was er hier formulierte: »Der Schatten Ihres herben Verlustes
lag noch auf Ihrem ganzen Wesen – aber die schönen Strahlen
leuchteten darunter«, und ermutigte: »Purpurroth war
es und wird es nie – aber es wird mehr des lilafarbigen als
des grauen geben«. Storm liebte diesen Menschen nicht
zuletzt ob seiner Wortkunst sehr. Leicht wurde ihm ums noch
immer schwere Herz, als er nun las: »Die besten Menschen,
wie die besten Bücher – sind die, wo man viel zwischen den
Zeilen liest.« Draußen aus den Auwiesen schwang eine Lerche
sich empor.
©
Sabine Adatepe 2005
______________________________________________
Der
eingangs »zitierte« Brief vom 24.08.1865 ist eine, auch hinsichtlich
des Datums, frei erfundene Rekonstruktion eines Antwortschreibens
Storms an Turgenjew Mitte August 1865.
Theodor
Storm (1817-1888): schrieb neben seiner Berufstätigkeit als
Anwalt, Richter und Landvogt Lyrik (u.a. ›Die graue Stadt
am Meer‹) zu Themen seiner norddeutschen Heimat, Märchen (u.a.
›Der kleine Häwelmann‹, 1849, ›Die Regentrude‹, 1864) und
Novellen mit zunächst melancholischer Grundstimmung (u.a.
›Immensee‹ 1850), dann größerem Realismus und erzählerischer
Phantasie (u.a. ›Pole Poppenspäler‹ 1874) und zuletzt in historischen Chroniken angelehnter Form (›Ein Fest auf Haderslevhuus‹
1885 u.a.). Am bekanntesten ist ›Der Schimmelreiter‹ (1888)
über den tragischen Kampf eines Menschen gegen die Naturgewalten.
Iwan
Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883): nach romantischen Versdichtungen,
Erzählungen und dramatischen Versuchen bekannt geworden durch
den sozialkritischen Erzählzyklus ›Aufzeichnungen eines Jägers‹
(1847-1852), seine Romane (›Rudin‹ 1855, ›Ein Adelsnest‹ 1958,
›Am Vorabend‹ 1860, ›Väter und Söhne‹ 1862, ›Rauch‹ 1867,
›Neuland‹ 1876), die ein zeitgenössisches Portrait der russischen
Gesellschaft zeichnen, sowie Novellen (u.a. ›Asja‹ 1858, ›Erste
Liebe‹ 1860). Lebte seit 1855 zumeist im Ausland (Frankreich
u. Deutschland).
Wörtliche
Zitate (im Text kursiv); entnommen
aus:
Peter
Goldammer: Theodor Storm. Leipzig 1990.
Karl
Ernst Laage: Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche
und literarische Beziehungen, Einflüsse, Briefe, Bilder. Heide
in Holstein 1967.
Karl
Ernst Laage: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben und Werk
mit einem Handschriftenkatalog. Berlin 1985.
Eduard
Mörike: In der Frühe, in: Gedichte in einem Band, Frankfurt
a.M. 2001.
Iwan
S. Turgenjew: Rauch. Roman. München o.J.
Juan
Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew. Eine Biographie. Frankfurt
a.M. u. Leipzig 2001.
Weitere
Literatur:
Helmuth
Bischoff: Baden-Baden. Köln 1996.
Ute
Lange-Brachmann u. Joachim Draheim (Hrsg.): Pauline Viardot
in Baden-Baden und Karlsruhe. Baden-Baden 1999.
Hartmut
Vinçon: Theodor Storm. Reinbek b. Hamburg, 1972.
Weitere authentische Personen:
Ludwig
Pietsch (1824-1912): Maler und Journalist, persönlicher Freund
Storms und Turgenjews
Pauline
Viardot-Garcia (1821-1910): spanisch-französische Primadonna
und Komponistin, Schwester von Maria Malibran, verheiratet
mit dem Leiter des Théâtre Italien in Paris, Louis Viardot.
Fräulein
von Görger (1842-1926): 1863-65 Schülerin Viardots in Baden-Baden,
bekannt unter ihrem Künstlernamen Aglaja Orgeni
Madame
Clara – Clara Schumann (1819-1896): Pianistin und Komponistin,
verh. mit Robert Schumann; verbrachte nach dem Tod ihres Mannes
ab 1862 die Sommermonate zurückgezogen in Lichthental bei
Baden-Baden, zu den Freunden des Hauses zählte vor allem Johannes
Brahms. Persönliche Freundschaft verband sie mit Pauline Viardot-Garcia.
F.M.
Dostojewskij (1821-1881): russischer Schriftsteller, hielt
sich mehrfach zwecks Besuch der Spieltische u.a. in Baden-Baden
auf, wo er sich mit Turgenjew über die "Westlerdebatte"
überwarf.
Zur Veröffentlichung angenommen
für Janko Kozmus (Hg.): Begegnungen aus der Tintenwelt. Autoren
treffen Autoren im 19. Jahrhundert. Biographische Erzählungen.
(bisher nicht erschienen)