horizonte, flammen und lieder – türkische Kult- und Lieblingsgedichte
eine musikalisch-literarische Reihe 2009

Überblick über die Entwicklung der türkischen Lyrik(1)
© Sabine Adatepe 2009

Wo der Beginn der türkischen Poesie(2) anzusetzen ist, ist aus räumlichen und sprachlichen Gründen gar nicht so einfach zu bestimmen. Denn es gibt eine Vielzahl von Turksprachen und von einer türkischen Besiedlung Anatoliens in großem Stil ist erst ab Ende des 11. Jahrhunderts zu sprechen.
Für die türkische Volksdichtung in Anatolien ist als einer der ersten großen Dichter Yunus Emre aus dem 13./14. Jahrhundert zu nennen.
Die Vertreter der Volksdichtung nahmen sich in einer volksnahen Sprache und im silbenzählenden Versmaß, das der vokalreichen türkischen Sprache gut entspricht, Themen aus der islamischen Mystik ebenso an, wie sie im Laufe der Jahrhunderte zu Sprachrohren sozialer Befindlichkeiten wurden. Erinnert sei hier nur an Dichter und Barden wie Pir Sultan Abdal (16. Jh.), der für seine Aufstandslyrik hängen musste.
Parallel dazu entwickelte sich eine höfische Literatur, die sogenannte Diwan-Literatur. Unter Diwan ist hier jeweils die Ausgabe der gesammelten Werke eines Dichters zu verstehen.
Die Diwanliteratur war stark von arabisch-persischen Elementen geprägt – Arabisch hatte durch den im 9. Jahrhundert von den Türken übernommenen Islam großen Einfluss, und Persisch als bevorzugte Literatursprache der osmanisch-türkischen Elite. Vom Volk wurde die Diwanliteratur kaum verstanden.
Diese Dichtung hielt sich an das arabische Versmaß Aruz, das nach Längen und Kürzen zählt, also denkbar ungeeignet ist für die türkische Sprache mit ihren gleich langen Silben. Folglich bildete sich eine Art Kunstsprache heraus.
Die Dichter der Diwanlyrik lebten meist am Hof in Istanbul oder in dessen unmittelbarer Nähe, konnten sie doch nur hier ein Auskommen finden mit ihrer Dichtung, die zu großen Teilen aus Lobpreisungen für Herrscher und Staat bestand. Doch auch hier entwickelten sich unterschiedliche Ausprägungen, so dass bald auch Humor, Satire, Schmäh- und Lehrgedichte Einzug hielten.
Eine eigenständige osmanisch-türkische Diwandichtung existierte vom 14. bis ins 19. Jahrhundert hinein, ihre großen Namen – Seyhi, Ahmed Pasa, Fuzûli, Baki, Nef’i, Nabi, Nedim und Seyh Galib – sind bis heute unvergessen, auch wenn ihre sprachlich fein ziselierte und nur der höfischen Elite verständliche Dichtung ab Mitte des 19. Jahrhunderts den Reformbestrebungen des niedergehenden Osmanischen Reiches Tribut zollen musste.
Mit dem Reformedikt zur Neuordnung von Militär und Bildung von 1839 (Tanzimat) setzte die Modernisierung des Osmanischen Reiches ein, die Elite begann Französisch zu lernen und sich mit europäischer Kultur zu beschäftigen; parallel dazu bereitete sich mit zunehmend kritischen Dichtern, die auch Sprache und Poesie reformieren wollten, die moderne türkische Literatur vor.
Neben Sinasi und Ziya Pasa ist hier vor allem Namik Kemal zu nennen, der die europäischen Gattungen des Romans und des Schauspiels in die türkische Literatur einführte. Neue Themen wie Vaterland, Freiheit und einsetzende Nationalbewegungen erforderten eine neue Sprache, neben altem Versmaß und alten Formen wurden, zunächst behutsam, neue ausprobiert.
Hatten in der Diwan-Literatur große Dichter jeweils allein für sich gestanden, setzte nun eine Phase der Gruppenbildung ein: Um Literaturzeitschriften herum bildeten sich literarische Bewegungen, mal mehr, mal weniger politisch. Eine der wichtigsten war die sogenannte Edebiyat-i Cedide, die neue Literatur, die sich um die 1896 gegründete Literaturzeitschrift Servet-i Fünûn herum sammelte. Man lehnte die Diwan-Dichtung explizit ab und wandte sich der europäischen, vor allem französischen Literatur mit ihrem Symbolismus zu. Tevfik Fikret, Cenap Sahabettin u.a. sind hier die prominentesten Vertreter.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es mit dem Osmanischen Reich rasch bergab, die Suche nach einer neuen Identität brachte die Renaissance der Volkssprache und –dichtung mit sich. Der rasante politische Wandel führte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im I. Weltkrieg und nach dem türkischen Befreiungskampf gegen die alliierte Besatzung Anatoliens zur Gründung der türkischen Republik 1923, die in ihren ersten Jahren eine umfassende Reformierung aller gesellschaftlichen und politischen Bereiche und Strukturen einleitete.
Für die Literatur ist hier die Schrift- und Sprachreform von 1928 am bedeutendsten. Das arabische Alphabet wurde zugunsten des in Westeuropa gebräuchlichen lateinischen Alphabets abgeschafft. Es wurde auf Bildung für alle gesetzt, religiöse Bildungseinrichtungen wurden geschlossen. Mit dem türkischen Sprachinstitut TDK wurde ein Instrument geschaffen, um die staatliche Sprachpolitik – bis heute – dirigistisch durchzusetzen.
Die über Jahrhunderte parallel aber getrennt voneinander verlaufenen Entwicklungsbahnen der Volksdichtung und der Diwan-Lyrik fanden wieder zusammen, bis in die 30er Jahre erlangte das Silben zählende Versmaß wieder Vormachtstellung, es setzten Bewegungen ein, die durch neue Metren oder Ablehnung aller konventionellen Systeme neue klangliche und gestalterische Möglichkeiten schufen.
Noch lebten und arbeiteten Yahya Kemal Beyatli und Ahmet Hasim als die letzten Vertreter der Diwan-Lyrik und Asik Veysel als der letzte bedeutende Volksdichter, da bemühte sich eine junge Generation darum, eine Synthese zu schaffen aus lyrischer Volkstradition und der Sprachgestaltung und Formgebung der europäischen Lyrik. Ahmet Hamdi Tanpinar, Ahmet Muhip Dranas und Cahit Sitki Taranci sind die wichtigsten Vertreter dieser Phase.
Den radikalsten Bruch mit der Tradition aber vollzog Nâzim Hikmet Ran. Er befreite das Gedicht von allen formalen und thematischen Fesseln und Beschränkungen.
Die Poesie war vom geistigen Vergnügen einer kleinen Minderheit zum Erlebnis für die Mehrheit und zum Politikum geworden. Der Bezug zur Realität wurde zum maßgeblichen Kriterium.
Selbstverständlich gab es auch den Gegenpol: Necip Fazil Kisakürek etwa kam in seinen Texten vom Mystizismus und wurde zum orthodoxen Dogmatiker, bevor er sich aus der Literatur zurückzog.
Den zweiten Durchbruch in die Moderne schafften Orhan Veli Kanik, Oktay Rifat und Melih Cevdet Anday 1941 mit ihrem Manifest Garip (Fremdartig)(3). Hier schrieben sie als neue Richtschnur Wörtlichkeit, Spontaneität und Einfachheit fest. Thematisch traten Alltagsgegenstände und Sozialkritik in den Vordergrund.
Die Garip-Bewegung war von nachhaltiger Bedeutung für die Moderne der türkischen Literatur und fand nach Orhan Velis frühem Tod (1950) zahlreiche Nachfolger, darunter Bedri Rahmi Eyüboglu, Orhon Murat Ariburnu, Özdemir Asaf, Salah Birsel, Necati Cumali, Ercümend Behzad Lav, der den Surrealismus in die türkische Lyrik brachte, und mit ihrer Orientierung an der Volkspoesie Rifat Ilgaz und A. Kadir, Ceyhan Atif Kansu und Ahmed Arif, die mit ihrem sozialen Engagement in der Tradition Pir Sultan Abdals standen. In diese Reihe gehören auch Can Yücel, als der Bohèmien unter den Garip-Nachfolgern, und Fazil Hüsnü Daglarca als einer der produktivsten und sprachlich kreativsten türkischen Dichter.
Neben einer Reihe junger Dichter, die unabhängig von irgendwelchen Strömungen neue Wege beschritten, wie Asaf Halet Çelebi, Behçet Necatigil, Ilhan Berk, Cahit Külebi oder Attila Ilhan, der mit den Maviciler (Die Blauen) selbst eine Art Bewegung gründete und scharf alle attackierte, die ihm nicht folgten, kam in den 1950er Jahren mit der nächsten Generation eine neue Bewegung auf. Sie wollten die ersten Erneuerer der Garip-Strömung, die mittlerweile etabliert war, nun ihrerseits erneuern: Ikinci Yeni, die zweite Neue.
Man empfand die Garip-Lyrik als banal und sprachlich fade und orientierte sich an der europäischen Nonsense-Dichtung, floh ins Esoterische und Irreale, baute eine neue Bilder- und Chiffrenwelt auf.
Einige von ihnen kamen selbst aus der Garip-Bewegung, wie Edip Cansever oder Turgut Uyar, andere suchten eine Synthese zwischen Garip und neuen Formen, darunter Ülkü Tamer und Cemal Süreya, für eine dritte Strömung verloren Sprachnormen jede Verbindlichkeit. Zu ihnen gehören u.a. Ece Ayhan, Ahmet Oktay und Gülten Akin. Bei Gülten Akin etwa macht das esoterische Ich einem neuen Ich Patz, das zur anatolischen Tradition zurückfindet – und damit wiederum das Ende der sogenannten Ikinci Yeni markiert.
Melih Cevdet Anday ist einer jener, die die puristischen Anfänge hinter sich ließen, bald mehr Wert auf Klang und Struktur legten und Freude am Experimentieren hatten. Damit ist er einer der wenigen, denen es gelang, über die Zeiten und Strömungen hinweg den Bogen zum Individualismus zu schlagen, der seit den 80er Jahren die poetische, ja, die literarische Landschaft der Türkei insgesamt prägt.

Anmerkungen:
(1) Dieser Überblick wurde für die musikalisch-literarische Reihe „horizonte, flammen und lieder – türkische Kult- und Lieblingsgedichte“ konzipiert und auf den jeweiligen Veranstaltungen zum Band „Kultgedichte – Kült Siirleri“ (hgg. v. Erika Glassen und Turgay Fisekçi, Türkische Bibliothek, Bd. 14, Zürich, Unionsverlag 2008) in Auszügen bzw. in gekürzter Form vorgetragen.
(2) „Türkisch“ bezieht sich hier ausschließlich auf das sogenannte Türkei-Türkisch und Osmanisch, seinen unmittelbaren Vorläufer auf anatolischem Gebiet. Alle anderen Turksprachen und historischen Vorgänger würden den hiesigen Rahmen sprengen.
(3) Eine neue Übersetzung des Garip-Manifests bietet der Band Mark Kirchner (Hg.): Geschichte der türkischen Literatur in Dokumenten. Hintergründe und Materialien zur Türkischen Bibliothek. Wiesbaden: Harrassowitz 2008.

 

© Sabine Adatepe 2010